Bildraum

In der europäischen Kunst war die Entwicklung des illusionistischen Bildraums, also die Darstellung von Räumlichkeit auf der zweidimensionalen Bildfläche, zuerst für Künstler in der Antike und später in der Renaissance eine Herausforderung. In der Zwischen-
zeit, dem Mittelalter, spielte Räumlichkeit in der Darstellung kaum eine Rolle, im Gegenteil: Die Größe der Figuren z.B. richtete sich nicht nach den Prinzipien räumlicher Entfernung, sondern allein nach ihrem Rang. Je größer die Figur, desto bedeutender ihre Stellung („Bedeutungsperspektive“).

In diesem Beitrag geht es um die Gestaltung von Bildräumen – also darum, wie durch Formen, Farben und Anordnung in Bildern ein räumlicher Eindruck (bzw. ein flächiger Eindruck) entstehen kann. Du erfährst, mit welchen Mitteln Künstler Räumlichkeit und Körperlichkeit im Bild aufbauen können. So bekommst du ein besseres Verständnis dafür, wie Bilder wirken – und wie du selbst mit einfachen Mitteln Tiefe und Raum in deinen eigenen Arbeiten erzeugen kannst.

Grundlegend können zwei Gestaltungsprinzipien unterschieden werden: die Betonung des Raumes und die Betonung der Fläche. Bilder können gestalterische Mittel aufweisen, die beide Prinzipien verwirklichen. Jedoch kann eine Tendenz bestimmt werden.

„Wir müssen die dreidimensionale Welt der Gegenstände in die zweidimensionale Welt der Leinwand übertragen.“

Max Beckmann

Betonung des Raumes (Verräumlichung)

Auf der Fläche kann durch den Einsatz bestimmter Gestaltungsmittel eine Raumillusion erzeugt werden. Der Bildraum beinhaltet die Gliederung des Formates in räumliche Bezüge (Vordergrund, Mittelgrund, Hintergrund) und die Entscheidungen über die Mittel der Körper- und Raumdarstellungen auf der Bildfläche.

Modulation von Licht und Schatten
Bildgegenstände plastisch hervorzuheben war schon in der Antike und dann wieder seit der Renaissance ein Anliegen vieler Künstler. Für Leonardo da Vinci war „die Rundung die Seele der Malerei“. Die Körperhaftigkeit wird in der Malerei durch Licht- und Schatten-Modulation erzeugt, d. h. die stufenweise Veränderung einer Farbe.

In der Grafik sind insbesondere die Mittel der Schraffur und der Hell-Dunkel-Kontrast bedeutsam. Durch die Darstellung von Eigen-/Körperschatten und Schlagschatten kann auf der Fläche die Illusion von Körperhaftigkeit erzeugt werden.

Wolfgang Mattheuer, Die Flucht des Sisyphos, 1972.
Öl auf Hartfaserplatte, 97 x 118 cm. Albertinum, Dresden.
Caspar David Friedrich, Studie einer Eiche; Baum mit Wurzel, 1809.
Bleistift, 32 x 26 cm. Kupferstichkabinett Dresden.

Neben der Körperillusion spielt die Raumdarstellung eine entscheidende Rolle.

Vor der Entdeckung der Perspektivkonstruktion nutzten Künstler einfache Mittel zur Raumdarstellung, die sie aus der Seherfahrung gewonnen hatten. Beispielsweise war der mittelalterliche Bildraum weitgehend flach, der Hintergrund wenig und meist golden ausgestaltet. Den Künstlern des Mittelalters ging es nicht um die perfekte Raumillusion, sondern um den geistig-religiösen Gehalt. So wurden einfache raumschaffende Mittel eingesetzt, um die Bildfläche räumlich erscheinen zu lassen.

Stephan Lochner, Madonna im Rosenhag, um 1450.
Mischtechnik auf Holz, 51 x 40 cm.

In der folgenden Übersicht sind einfache raumschaffende Mittel aufgelistet, die sich gut in van Goghs Gemälde und Zeichnung zeigen:

Die Fußpunkte der Objekte im Bild zeigen Folgendes: Die Boote, die im Bild weiter hinten liegen, haben eine höhere Position. Sie sind teilweise in regelmäßigem Abstand von vorn links nach hinten rechts positioniert (gestaffelt) und verdecken einander mitunter. Boote, die im Bild weiter hinten liegen, sind erheblich kleiner dargestellt.

Darüber hinaus wurden im Laufe der Jahrhunderte weitere raumschaffende Mittel entdeckt und entwickelt, um Räumlichkeit darzustellen. Bereits im Altertum wurden vereinzelt, so schon in pompejanischen Wandgemälden, die Gegenstände — besonders Architekturelemente — perspektivisch verkürzt darstellten, um Raumillusion zu erzielen, jedoch ohne dass die Linien konsequent auf einen Fluchtpunkt zuliefen. Hier wurde der Seheindruck
sehr exakt nachgeahmt.

Parallelprojektion („Parallelperspektive“)

Als konstruierbare Raumdarstellung hat sich aus der Antike, vor allem in römischen und byzantinischen Mosaiken, die „Parallelprojektion“ (landläufig: „Parallelperspektive“) erhalten. Sie kam im Konstruktivismus des frühen 20. Jahrhunderts zu neuer Geltung. Alle in Wirklichkeit parallel verlaufenden Linien eines Körper werden parallel wiedergegeben, was zu mathematisch-technischer Genauigkeit, nicht aber zu einer dem Sehsinn entsprechenden Darstellung führt.

Mosaik, um 425-430 n. Chr. (Ausschnitt, Höhe ca. 50 cm).
Mausoleum der Galla Placidia, Ravenna.
Theo von Doesburg, Kontra-Konstruktion, 1924.
Tinte und Gouache, 58 x 57 cm. Stedelijk Museum, Amsterdam.

Zentralperspektive

Um 1420 glückte Künstlern wie Brunelleschi und Alberti erstmals die Darstellungsform, die der Wahrnehmung des menschlichen Auges am nächsten kommt: die wissenschaftliche „Zentralperspektive“. In die Tiefe gehende Linien werden dabei zu „Fluchtlinien“, die sich im „Fluchtpunkt“ treffen. Dessen Höhe gibt die Horizontlinie und damit die Augenhöhe des Betrachters an. Liegt diese hoch, spricht man von „Vogelperspektive“, liegt sie tief, von „Froschperspektive“.
Elemente, die gleich groß sind (z. B. Kacheln, Fliesen), werden mittels „Distanzpunkt“ kontinuierlich verkleinert. Ein Kreis wird in der räumlichen Verkürzung zur Ellipse.

Während die Zentralperspektive eine Einfluchtpunktperspektive darstellt, bei der eine Seite parallel zur Zeichenebene verläuft („Frontalperspektive“), werden über Eck gesehene Körper in der Regel mittels Zweifluchtpunktperspektive wiedergegeben („Normalperspektive“ bzw. „Übereckperspektive“). Die Zweifluchtpunktperspektive vermag es Objekte realitätsnah abzubilden, die eine andere Lage im Raum haben und folglich in einem anderen Winkel zum Sehstrahl des Betrachters liegen.

Michelangelo, Die Schule von Athen, 1510-11.
Fresko. Stanza della Segnatura, Vatikan.

Farb- und Luftperspektive

Parallel zur Konstruktion der Zentralperspektive erforschten Künstler auch die malerischen Mittel zur Schaffung von Raumillusion. Ihre Methoden waren empirisch begründet, da sie beobachtet haben, dass Landschaftsteile mit zunehmender Entfernung verblauen, die Farbtemperatur also abnimmt. Da wir warme Farben (Rot, Braun etc.) als näher empfinden, lässt sich durch die Anwendung der Farbperspektive („Verblauung“), d. h. den Übergang von warmen Farben in kühlere (Grün, Blaugrün, Blau) der Eindruck von Raumntiefe erzeugen.

Aufgrund von atmosphärischen Einflüssen werden Dinge in der Ferne auch undeutlicher, kontrastärmer und heller. Ein Meister dieser Luftperspektive war Leonardo da Vinci: Er hüllte die Hintergrundlandschaften in zarten Dunst. Für seine Malweise prägte er den Ausdruck „sfumato“ (ital.: rauchig).

Leonardo da Vinci, Felsgrottenmadonna [Detail], 1483-86.
Leonardo da Vinci, Madonna mit der Spindel [Detail], 1501.
Öl auf Holz, 50 x 35 cm.

Betonung der Fläche (Verflächigung)

Die Illusion von Räumlichkeit und Körperlichkeit in Bildern kann auch reduziert sein bzw. negiert werden.

Henri Matisse, Luxus, Ruhe und Sinnlichkeit, 1904.
Öl auf Leinwand, 99 x 119 cm.
Musée national d’art moderne, Centre Pompidou, Paris.
[Betonung der Umrisslinie]
Pablo Picasso, Landschaft mit zwei Figuren, 1908.
Öl auf Leinwand, 60 x 73 cm. Musée Picasso, Paris.
[Verbinden verschiedener Ansichten, Anschneiden durch Bildrand, Reduzieren auf Vorder- und Hintergrund]

Folgende Gestaltungsmittel bewirken einen flächigen Eindruck:

  • Betonung der Umrisslinie / der Silhouette
  • Verbindung verschiedener Ansichten
  • dekorative Flächenmuster
  • Reduzierung auf Vorder- und Hintergrund
  • Objekte nur vor Hintergrund, Verstellen des Hintergrundes durch Objekte
  • Anschneiden durch Bildrand
  • Bedeutungsperspektive
Lucchesischer Maler, Thronende Madonna mit dem Kind, um 1250 – 1260.
Leinwand auf Pappelholz, 104 x 63 cm. Wallraf-Richartz-Museum Köln.
[Bedeutungsperspektive, dekorative Flächenmuster, Ornamente]

Quellen:
Grünewald, Dietrich (2009) (Hrsg.): Kunst entdecken. Oberstufe. Berlin: Cornelsen Verlag, S. 96f.
Klant/Walch (2002): Grundkurs Kunst 1. Malerei, Grafik, Fotografie. Hannover: Schroedel, S. 23ff.
Duden-Abiturhilfen (1994). Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Dudenverl.
Schöttle, Herbert (1995): Workshop Kunst, Band 2. Paderborn: Schöningh.